Vera Grigg, eine Frau Mitte 80, das Haar leicht zerzaust, tiefe Falten im Gesicht, ihr Blick ernst und konzentriert, sitzt vor mir auf einem Stuhl und beginnt zu erzählen. Davon, wie sie als Kind im Londoner Stadtteil Dagenham die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe 1940 erlebte. Wie das Haus ihrer Familie einstürzte, wie ihr Vater, Mitglied der Zivilverteidigung, im Bombenhagel stirbt, wie sie allein am Geräusch der Motoren den Modelltyp der aus den Wolken stürzenden Flugzeuge erkennen konnte. Plötzlich steigt Rauch auf, um uns herum brennende Gebäude. Ich blicke auf den Boden, unter meinen Füssen, eben noch Parkettboden, befindet sich nun Schutt und Asche. Dutzende deutsche Jagdbomber fliegen über den Kopf der alten Frau hinweg. Ich drehe mich und blicke ihnen nach, wie sie durch mein Wohnzimmer donnern, vorbei an mir und dem Bücherregal. Dann lausche ich wieder gebannt Veras Geschichte. Sie ist mittlerweile aufgestanden, und auch ich beginne, etwas unruhig auf meinem Sofa herumzurutschen.

Ermöglicht wird dieses intensive Eintauchen in die Erlebnisse der Zeitzeugin durch mein Smartphone und die vom WDR kostenlos bereit gestellte App “AR 1933-1945”. AR steht dabei für Augmented Reality, also “erweiterte Realität”. Diese Technik erlaubt es, audio-visuelle Elemente, wie z.B. das Hologramm von Vera Grigg oder die Kampfflugzeuge, auf die durch das Handy oder Tablet betrachtete unmittelbare Umgebung zu projizieren. Es entsteht also ein Mix aus realer Welt und virtuellen Komponenten.

Das in den letzten Jahren sicherlich bekannteste Beispiel für die Verwendung von AR, allerdings nicht ganz so pädagogisch wertvoll wie die App des WDR, ist das von Nintendo entwickelte Spiel “Pokemon Go”. Hier galt es, kleine Monster — die namensgebenden “Pokemon” — an weltweit realen Orten aufzuspüren und einzusammeln. Auch die seit 2017 verfügbaren und populär gewordenen AR-Video-Filter für Instagram Stories, mithilfe derer sich etwa virtuelle Hasenohren, Blumenkränze oder Brillengestelle über das mit der Handy-Kamera aufgenommene Selbst stülpen lassen, stellen ein anschauliches Beispiel dar. Eine seriöser daherkommende Anwendung ist z.B. die App “Place” des Möbelherstellers IKEA, mit der sich Möbelstücke im eigenen Wohnzimmer sozusagen probeweise platzieren lassen.

Im Bildungsbereich bietet AR den Lernenden und Lehrenden faszinierende Möglichkeiten, wie es die eingangs geschilderte App über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges beweist. Nicht zuletzt weil der Entwicklungsaufwand deutlich geringer und die Anwendung sehr viel einfacher als beim Einsatz von Virtual Reality-Technologien ist — schliesslich braucht es für AR nur ein Smartphone oder Tablet —, können Interessierte mittlerweile auf eine Vielzahl von Programmen zurückgreifen.

Mit Apps wie “Night Sky” oder “Star Walk 2” können Schülerinnen und Schüler den Sternenhimmel und Weltraum erforschen, mit dem “Atlas der Humananatomie 2020” den menschlichen Körper entdecken oder mit “Math Ninja AR” auf spielerische Weise (siehe Gamification & Game-Based Learning; in Vorbereitung) Rechenaufgaben lösen.

Das Potenzial ist hier längst noch nicht ausgeschöpft und man darf gespannt sein, was die Branche im Bereich des Immersive Learnings noch so alles hervorbringen wird. Siehe hierzu auch unsere Serie zu den aktuellen Themen & Trends in der Digitalen Bildung 2020.

Verwandte Begriffe und Konzepte: Virtual Reality (VR), Immersive Learning.

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